Die Bücher des Monats sind unsere besonderen Bücher aus dem jeweiligen Wetzsteinbrief des Monats.

Menasse, der intelligente, große Verehrer, Bewunderer, Freund, Verteidiger unseres fragilen Kontinents Europa, hat ein mitreißendes Buch geschrieben, voller Witz, großem Wissen, auch mit manchen Widersprüchen, wie er selbst irgendwann im Text einmal belustigt feststellt. Es ist neben aller kritischen Betrachtung des Projektes Europa auch ein tröstliches und Mut machendes Buch geworden. Der Titel kommt nicht von ungefähr. Stefan Zweig ließ in seiner Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers das Wien der frühesten Jahre des 20. Jahrhunderts und die k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarns, die Kultur des alten Europas, noch einmal vor unsere Augen treten, verbunden mit persönlichen Rückblicken auf sein eigenes Leben. Dieses Europa ging unter, versank in einem Blutbad, das die ganze Welt umfasste, ausgelöst von den Deutschen, geprägt von einem hemmungslosen Nationalismus, dem laut Menasse größten Unheilsbringer. Nach dem Ersten Weltkrieg konnten auch die entstandenen starken Friedensbewegungen nicht den folgenden Krieg verhindern, weil der „eigentliche Feind nicht infrage gestellt worden war, die Nation, als Idee und politisches Faktum.“ (Menasse, Seite 14). Wie Menasse es gelingt, Versäumnisse und Errungenschaften in Europa nach dem großen Scheitern und dem Wiederanfang einander gegenüberzustellen, das zu lesen ist Anregung und reines Vergnügen. Manche Politiker*innen bekommen ihr Fett gehörig weg, immer dann, wenn sie den nach Menasse logischen nächsten Schritt in der Demokratiegeschichte nicht machen wollen, den in eine nachnationale europäische Demokratie. Wir lernen: „Demokratie ist mehr als Wählengehen auf der Basis eines national definierten Stimmrechts“. Eine gute Denkanregung für den 9. Juni 2024 in einem höchst unterhaltsamen, anregenden und spannenden Sachbuch. [SB]

 

Robert Menasse: Die Welt von morgen (Bestellen)

Suhrkamp Verlag, 23 Euro

Issa, eine junge schwangere Frau, reist von Deutschland nach Kamerun in ihr Geburtsland, wo sie sich jenen Ritualen – wie dort alle Frauen – für eine gute Schwangerschaft und Geburt unterzieht. Sie taucht ein in ihre Familiengeschichte, in Traditionen und Riten. Soweit die Rahmenhandlung des Debütromans von Mirrianne Mahn. Ausgehend von dieser Geschichte entwickelt sich ein Text zu Emanzipation und Identität, es geht um Traumata, die über Generationen weitergegeben werden, um Kolonialismus und um eine Frau, die, europäisch denkend, sich der Kultur ihrer Familie annähert, um diese zu verstehen. Es geht in diesem Roman um die „stille Macht“ der Frauen und um die Kraft, die es braucht, sich aus der Unterdrückung zu befreien.

Einen tiefsinnigen, aber auch frechen und humorvollen Roman hat Mirrianne Mahn hier verfasst. Voller Spannung, voller Hintergründigkeit, voller Neugierde und in einer Stimmung, die auch Tage nach dem Zuklappen der Buchdeckel noch nachhallt. [BS]

Mirrianne Mahn: Issa (Bestellen)

Rowohlt Verlag, 24 Euro

In diesem 2006 zum ersten Mal erschienenen, jetzt erneut aufgelegten, schmalen Band erinnert sich die 1935 in einem Städtchen im Harz geborene, wunderbare Sarah Kirsch an ihre Kindheit. Ihre Gedanken kreisen um die Einschulung, 1941, als der Krieg bereits zwei Jahre wütete, aber noch weit weg schien, bis hin zum Bauarbeiteraufstand in der DDR 1953. Mit hellwachen Sinnen bewegt sich das Mädchen Sarah in einer abwechselnd idyllisch, immer wieder auch bedrohlich erscheinenden Welt. Lange nicht mehr habe ich mich beim Lesen so gut wiedergefunden in meiner eigenen Kindheit, eine Generation später. Die hin und wieder liebenswert altmodisch wirkende Sprache tut das ihrige, um sich selbst in frühere Zeiten des eigenen Lebens zurückzuversetzen. Dennoch ist dieses kleine Buch erfreulich nüchtern und klar in den Schilderungen der sehr unterschiedlichen Eindrücke und Einschätzungen, seien sie politisch, gesellschaftlich, menschlich. Sarah Kirsch beschönigt nicht, glättet nicht, sondern schildert prägnant den Übergang aus einer Zeit, die von einem vernichtenden Krieg geprägt war in eine sozialistische Gesellschaft. Diese hatte sich zwar längst noch nicht gefestigt, war aber in ihren unangenehmen, beängstigenden Ausprägungen bereits deutlich zu spüren. Sarah Kirsch hatte es immer weniger mit dem Vaterland als mit der Muttersprache. Ein Glücksfall für die Literatur. Ein Geschenk für die Leser*innen. [SB]

Steidl Verlag, 18 Euro

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Eine persönliche Geschichte.

Homelands. A personal history of Europe, so lautet der weitaus treffendere englische Originaltitel. A personal history indeed. Wer außer Timothy Garton Ash, Professor für Europastudien in Oxford, kann sagen, die Geschichte Europas im letzten halben Jahrhundert überall dort selbst erlebt zu haben, wo sie geschah? Wer von uns lebte 1980 in Ost-Berlin? Saß am 10. November 1989 im „Tränenpalast“? Sprach mit den Kämpfern aller Volksgruppen in den Jugoslawien-Kriegen der 90er? Den europäischen Spitzenpolitiker*innen bis in die Finanzkrise und die zerbrechliche Gegenwart der EU?

Ash zeichnet in klaren Worten die großen, gegenläufigen, historischen, politischen Bewegungen Europas und lässt die einzelnen Menschen zu Wort kommen. Er reflektiert seine Rolle als teilhabender Historiker und als Mensch seiner Zeit. Sein Buch ist brillante historische Literatur und autobiographischer Bildungsroman; „A moving love letter to Europe“, wie Lea Ypi sagt, und eine anhaltende Mahnung, nichts für gegeben und sicher zu nehmen, denn: „History laughs“.

„Human motives are always mixed. (…) In the end, what matters is what we do.“ (S. 73 in der Original-Ausgabe)

Besprochen von Susanne Bader

Hanser Verlag, 34 Euro

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Stadt der Zeitenwenden. Berenberg Verlag, 22 Euro

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Dieses Buch aus dem mareVerlag, das wir in diesem Wetzsteinbrief vorstellen, empfehlen wir, weil es voller lesenswerter Geschichten und wunderbarer Illustrationen ist.
Für alle, die mehr wissen wollen: Macías stellt darin 34 Leuchttürme aus allen Ecken dieser Welt vor. Leuchttürme, die noch heute ihr Licht aussenden und Leuchttürme, die Vergangenheit sind. Bei allen jedoch lesen wir jene Geschichten, die den Charme der Welt der Leuchttürme ausmachen und uns zum Träumen bringen. Durch die Illustrationen erfahren wir zusätzlich alles Wichtige, um diese andere Welt zu verstehen: Karten, Längen- und Breitengrade, Feuerhöhe und Kennung der Türme.
Und damit ist es ein wunderbares Buch zur abendlichen Lektüre an unseren Freiburger Bächle! Das Buch in der Hand, die Füße im Wasser, ein Gläschen Wein. Dann ist der Alltag verschwunden. Sie sind mitten in einem wunderbaren Kurzurlaub.
Wer Lust auf mehr Leuchttürme bekommt, dem sei ein Klassiker ans Herz gelegt, der auch im Buch empfohlen wird, neu im Kampa Verlag erschienen: Virginia Woolf: Die Fahrt zum Leuchtturm

mareVerlag, 36 Euro

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