Die Bücher des Monats sind unsere besonderen Bücher aus dem jeweiligen Wetzsteinbrief des Monats.

Dies ist der zweite Roman des Autors Khani, der sich bereits mit dem Band Hund Wolf Schakal einen Namen machte. Unabhängig voneinander lesbar, entwickeln diese beiden herausragenden Bücher jeweils einen sehr eigenen Klang, sind geschrieben in einer Sprache, die sich der unterschiedlichsten Nuancen bedient. Khani schafft in Als wir Schwäne waren poetische Bilder von Gewalt und Überlebenskampf, ohne die Härte des Daseins in einer Siedlung im Ruhrgebiet der 90er Jahre zu beschönigen. Der Erzähler war zehn Jahre alt, als die Familie aus dem Iran nach Deutschland floh. Seine Mutter ist Soziologin, sein Vater Schriftsteller; sie alle sind auf der Suche. Wonach? „Wir sind ein Alptraum. Ich weiß nur nicht, wessen.“ In ihrer Sprache gibt es fünfzehn unterschiedliche Begriffe für Stolz. Wieviele gibt es im Deutschen? Der Junge rutscht immer weiter in eine Welt, in der Gewalt das maßgebliche Mittel ist, um sich zu behaupten, ja, er begibt sich aktiv in diese Welt, die seine Eltern nicht verstehen. Die unterschiedlichen Welten kollidieren, heftig und schmerzhaft für beide Seiten. Wir werden Zeuge dieser Unterschiede, erfahren beiläufig, äußerst treffend und genau erzählt, viel über deutsche Geschichte, über die deutsche Sprache, manches über den Iran. Wir lernen, was es bedeuten kann, niemals anzukommen. Mit dem Erzähler und dem Autor denken wir neu über den Begriff der Heimat nach – und die Unterschiede von Höflichkeit und Freundlichkeit, Interesse und Neugier. Auch, dass es in unserem Land zwar Beileid oder Mitgefühl gibt, aber kein Mitleid.

Ein großartiges Buch. Ein Buch, das bei jedem Wiederlesen seine Kraft und Schönheit neu entfaltet. [SB]

 

Behzad Karim Khani: Als wir Schwäne waren (Bestellen)
Hanser Berlin Verlag, 22 Euro

Herausgegeben von Jan Bürger, Gunilla Eschenbach, Anna Kinder, Helmuth Mojem und Sandra Richter. Deutsches Literaturarchiv Marbach, 18 Euro

Die marbacher magazine der Deutschen Schillergesellschaft sind immer wieder eine Entdeckung wert. Der neueste Band in dieser Reihe führt uns nach der klugen Einführung von Anna Kinder und Sandra Richter: Wie Literatur entsteht. Ein Blick hinter die Kulissenhinab in die Katakomben des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Wir wandern mit diesem Buch durch dessen Keller und damit hinein in die Geschichte von drei Verlagen: Cotta, S. Fischer und Suhrkamp. Anhand der Archive dieser Verlage, die dort gelagert und sorgfältig erschlossen wurden und, wie im Fall Suhrkamp, noch werden, ist ein umfassender Einblick in die Arbeitsweise dieser Häuser mit deren Autoren und Autorinnen möglich. Gegründet wurden sie von Johann Friedrich Cotta (1764 -1832), Samuel Fischer (1859 – 1934), Peter Suhrkamp (1891 – 1959). Der Suhrkamp Verlag wurde von Siegfried Unseld (1924 – 2002) maßgeblich vergrößert und prägend weitergeführt.
Der Aufstieg des Cotta Verlags wurde bestimmt von der großartigen Schaffenskraft seines äußerst geschäftstüchtigen Verlegers und der Strahlkraft Friedrich Schillers. Die Häuser Fischer und Suhrkamp litten unter dem verbrecherischen Nationalsozialismus. Holocaust, Exil, Konzentrationslager beherrschten die Bedingungen der Arbeit in den Verlagen.
Diese kämpften folglich nicht nur wirtschaftlich um ihre Existenz; ihre Leiter und Mitarbeiter*innen kämpften schlicht um das eigene Leben.
In den einzelnen Beiträgen dieses Bandes, in dem zusätzlich zahlreiche, bisher nicht bekannte Fotografien abgedruckt sind, erfahren wir ungemein viel Wissenswertes, also Wirtschaftliches, menschlich Berührendes, auch Randständiges, manches Liebenswürdige. 1950, am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, sprach Peter Suhrkamp in der Frankfurter Paulskirche. Seine bedeutende Rede anlässlich einer Buchwoche trug den Titel: „Kann das Buch uns helfen – müssen wir dem Buch helfen?“ Er schloss seinen Vortrag mit einem Rat, einem Wunsch: „Disponieren Sie in Ihrem Tagesplan eine tägliche stille Lesestunde ein.“ (S. 149) Was für ein guter Rat. Was für ein gutes marbacher magazin! [SB]

Das Buch können sie über post@zum-wetzstein.de bestellen.

Die Frage „Was kannst du an neuer Literatur empfehlen“ ist in meinem Freundeskreis nicht neu. Neu ist jedoch, wie ein Buch, das seit zwei Monaten bei mir liegt, immer wieder meine Besucher:innen fesselt und Begegnungen völlig verändert. Der Bildband Windsbraut mit Fotografien von Verena Brüning macht dies. Auf 127 Seiten, in kleinen bis zu doppelseitigen Bildern wird hier von der ersten Atlantiküberquerung einer Seefrauencrew auf einem Traditionssegler erzählt: stimmungsvoll, emotional und eindrücklich. Beigefügt sind zwei Texte und eine kleine Broschüre, die die Eindrücke der Bilder verstärken. Das Buch lädt ein zum Wegträumen, auf große Fahrt, über die Meere, denn mit diesen Bildern wird jeder zu einem Weltreisenden, der von seinen Reiseträumen erzählt. Ein wunderbarer Einstieg zu sehr persönlichen Gesprächen.

Aufgrund der Nachfrage nach diesem Bildband gibt es für Sie als Kund:innen acht reservierte Exemplare; bitte melden Sie sich daher zeitnah. Zusätzlich bieten wir Ihnen im Juli und August einzelne Bilder aus diesem Band gerahmt und/oder als Poster aus einer Kleinauflage der Fotografin an. [BS]

Bilderauswahl folgt

 

 

Menasse, der intelligente, große Verehrer, Bewunderer, Freund, Verteidiger unseres fragilen Kontinents Europa, hat ein mitreißendes Buch geschrieben, voller Witz, großem Wissen, auch mit manchen Widersprüchen, wie er selbst irgendwann im Text einmal belustigt feststellt. Es ist neben aller kritischen Betrachtung des Projektes Europa auch ein tröstliches und Mut machendes Buch geworden. Der Titel kommt nicht von ungefähr. Stefan Zweig ließ in seiner Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers das Wien der frühesten Jahre des 20. Jahrhunderts und die k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarns, die Kultur des alten Europas, noch einmal vor unsere Augen treten, verbunden mit persönlichen Rückblicken auf sein eigenes Leben. Dieses Europa ging unter, versank in einem Blutbad, das die ganze Welt umfasste, ausgelöst von den Deutschen, geprägt von einem hemmungslosen Nationalismus, dem laut Menasse größten Unheilsbringer. Nach dem Ersten Weltkrieg konnten auch die entstandenen starken Friedensbewegungen nicht den folgenden Krieg verhindern, weil der „eigentliche Feind nicht infrage gestellt worden war, die Nation, als Idee und politisches Faktum.“ (Menasse, Seite 14). Wie Menasse es gelingt, Versäumnisse und Errungenschaften in Europa nach dem großen Scheitern und dem Wiederanfang einander gegenüberzustellen, das zu lesen ist Anregung und reines Vergnügen. Manche Politiker*innen bekommen ihr Fett gehörig weg, immer dann, wenn sie den nach Menasse logischen nächsten Schritt in der Demokratiegeschichte nicht machen wollen, den in eine nachnationale europäische Demokratie. Wir lernen: „Demokratie ist mehr als Wählengehen auf der Basis eines national definierten Stimmrechts“. Eine gute Denkanregung für den 9. Juni 2024 in einem höchst unterhaltsamen, anregenden und spannenden Sachbuch. [SB]

 

Robert Menasse: Die Welt von morgen (Bestellen)

Suhrkamp Verlag, 23 Euro

Issa, eine junge schwangere Frau, reist von Deutschland nach Kamerun in ihr Geburtsland, wo sie sich jenen Ritualen – wie dort alle Frauen – für eine gute Schwangerschaft und Geburt unterzieht. Sie taucht ein in ihre Familiengeschichte, in Traditionen und Riten. Soweit die Rahmenhandlung des Debütromans von Mirrianne Mahn. Ausgehend von dieser Geschichte entwickelt sich ein Text zu Emanzipation und Identität, es geht um Traumata, die über Generationen weitergegeben werden, um Kolonialismus und um eine Frau, die, europäisch denkend, sich der Kultur ihrer Familie annähert, um diese zu verstehen. Es geht in diesem Roman um die „stille Macht“ der Frauen und um die Kraft, die es braucht, sich aus der Unterdrückung zu befreien.

Einen tiefsinnigen, aber auch frechen und humorvollen Roman hat Mirrianne Mahn hier verfasst. Voller Spannung, voller Hintergründigkeit, voller Neugierde und in einer Stimmung, die auch Tage nach dem Zuklappen der Buchdeckel noch nachhallt. [BS]

Mirrianne Mahn: Issa (Bestellen)

Rowohlt Verlag, 24 Euro

In diesem 2006 zum ersten Mal erschienenen, jetzt erneut aufgelegten, schmalen Band erinnert sich die 1935 in einem Städtchen im Harz geborene, wunderbare Sarah Kirsch an ihre Kindheit. Ihre Gedanken kreisen um die Einschulung, 1941, als der Krieg bereits zwei Jahre wütete, aber noch weit weg schien, bis hin zum Bauarbeiteraufstand in der DDR 1953. Mit hellwachen Sinnen bewegt sich das Mädchen Sarah in einer abwechselnd idyllisch, immer wieder auch bedrohlich erscheinenden Welt. Lange nicht mehr habe ich mich beim Lesen so gut wiedergefunden in meiner eigenen Kindheit, eine Generation später. Die hin und wieder liebenswert altmodisch wirkende Sprache tut das ihrige, um sich selbst in frühere Zeiten des eigenen Lebens zurückzuversetzen. Dennoch ist dieses kleine Buch erfreulich nüchtern und klar in den Schilderungen der sehr unterschiedlichen Eindrücke und Einschätzungen, seien sie politisch, gesellschaftlich, menschlich. Sarah Kirsch beschönigt nicht, glättet nicht, sondern schildert prägnant den Übergang aus einer Zeit, die von einem vernichtenden Krieg geprägt war in eine sozialistische Gesellschaft. Diese hatte sich zwar längst noch nicht gefestigt, war aber in ihren unangenehmen, beängstigenden Ausprägungen bereits deutlich zu spüren. Sarah Kirsch hatte es immer weniger mit dem Vaterland als mit der Muttersprache. Ein Glücksfall für die Literatur. Ein Geschenk für die Leser*innen. [SB]

Steidl Verlag, 18 Euro

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