Stadt der Zeitenwenden. Berenberg Verlag, 22 Euro
Der Autor, Literaturkritiker und Essayist Böttiger reist, angeregt durch die Entdeckung von Paul Celans Gedichten in einer Buchhandlung zu Beginn der siebziger Jahre, 1993 zum ersten Mal in die Stadt Czernowitz – damals ein Abenteuer, das ihn nie mehr loslassen wird. Er kehrte während der letzten drei Jahrzehnte noch zwei weitere Male an diesen nahezu mythischen Ort zurück. Juli 1993, Mai 2002, September 2022 sind die drei zeitlichen Stationen einer eigentlich einzigen großen Entdeckungsreise, menschlich, historisch, politisch und literarisch. Es werden Habsburg, Rumänien, Sowjetrussland und die Ukraine, Osteuropa in all seiner Vielfalt, gebündelt und verdichtet in dieser Stadt, der ein geheimer Zauber innezuwohnen scheint, ein Zauber, der auch viele dunkle und blutige Facetten hat.
Böttiger blättert in diesen, seinen persönlichen Reiseberichten Vergangenheit und Gegenwart der Universitätsstadt Czernowitz in wirklichen und gedanklichen Begegnungen mit deren Bürger:innen und Autoren und Autorinnen vor uns auf. Damit werden uns auch die Wechsel und Volten, die Czernowitz im Laufe seiner Geschichte immer wieder zugemutet wurden, sehr deutlich. Die Rote Armee, die Nazis und erneut die Rote Armee haben alles darangesetzt, den jüdischen Charakter dieser Stadt immer wieder zu vernichten. Ganz eng standen und stehen hier beieinander der kulturelle Reichtum, die Lebenslust, der Optimismus seiner Bewohner und gleichzeitig die großen Ängste vor Zerstörung, Vernichtung, Verschwinden. Den Alltag im Krieg zu bewältigen, den der brutale und skrupellose Präsident Putin in der Ukraine führt, ist eine von vielen Herausforderungen für die Bewohner des heutigen Czernowitz. Putin versucht in der Ukraine, ein Land, seine Menschen und die dortige Kultur zu vernichten, weil diese sich nicht seiner Diktatur und seinem Größenwahn beugen wollen. Auch das wird bei der Lektüre dieses schmalen, inhaltsreichen und empfehlenswerten Bandes uns schmerzlich von Neuem bewusst. [SB]