Roman. Hanser Berlin Verlag, 23 Euro
Dieses Buch hätte ein einziger, lang und genussvoll erzählter, subtiler, manchmal auch derber, höchst unterhaltsamer jüdischer Witz werden können. Und wird von Seite zu Seite zugleich auch ein mit 180 Seiten zwar schmaler, aber zugleich großer und ernsthafter Roman über Rassismus, die Ukraine und den Krieg. Der in Kyjiw geborene Autor Dmitrij Kapitelman lebt in Berlin und hat vor Russische Spezialitäten bereits zwei Romane veröffentlicht: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters und Eine Formalie in Kiew.
Kapitelman verfügt über einen Sprachwitz, der seinesgleichen sucht. Er erfindet immer wieder neue, und wenn man sie vor Augen hat, völlig einleuchtende Wörter. Warum ist man nicht selbst auf diese Formulierung gekommen, fragt man sich und liest mit größtem Vergnügen weiter, gespannt, zu welchen Mitteln er als nächstes greifen wird.
Die ukrainische Mutter des Erzählers betreibt in Leipzig über Jahrzehnte gemeinsam mit ihrem Mann einen Laden für russische Spezialitäten. Zu kaufen gibt es dort fast alles, zumindest alles, was es im Lauf der Zeit auf einem zunehmend klapprig werdenden Lieferwagen aus den unterschiedlichsten osteuropäischen Herkunftsorten auf teils verschlungenen Wegen nach Leipzig schafft. Der Sohn als Hin und Wieder-Aushilfe und eine ungemein langsame und unfreundliche Verkäuferin tragen als Ergänzung zum abnehmenden wirtschaftlichen Erfolg des Ladens bis zu seiner Schließung bei. Unverdrossen und unbeeindruckt hält die Mutter währenddessen über all die Jahre an der russischen Sprache fest, glaubt dem russischen Wetterbericht und konsumiert die Lügen Putins im russischen Staatsfernsehen wie das tägliche Brot. Schließlich reist der Sohn mitten im Krieg nach Kyjiw, um sie von dort aus mit der Realität zu konfrontieren und sie von ihrem russischen Propaganda-Fernsehweltwahn zu befreien.
Dieser Roman ist auch eine Liebeserklärung an die Sprache, mit vielen Abgründen und vielen Hoffnungen. Kapitelman verknüpft in Russische Spezialitäten Irrwitz mit Liebe, Komik mit Verzweiflung, Lüge mit Tragik und Zärtlichkeit. Alle Brüche und Widersprüchlichkeiten von Heimat und Identität, alle Zermürbungen durch einen unsinnigen und grausamen Krieg erfahren wir in diesem großartigen Buch. [Susanne Bader]