Drei wahre unwahrscheinliche Leben. Hanser Verlag, 23 Euro

 

Claudio Magris erhielt neben anderen, zahlreichen Auszeichnungen 2001 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung, 2009 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sein 2022 erschienenes Buch Gekrümmte Zeit in Krems besprach ich damals im Wetzsteinbrief, und auch sein Werk Kreuz des Südens (2019), jetzt auf Deutsch erschienen, findet hier in unserem April-Brief zu Recht seinen Platz. Der Autor wurde in Triest geboren, studierte in Turin und in Freiburg, war bis 2006 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Triest. Diese Stadt ist ein Schnittpunkt vieler Kulturen. Zahlreiche Literaten zog und zieht es immer wieder an diesen gleichzeitig schönen, seltsamen und hoch interessanten Ort.

Von drei sehr unterschiedlichen und abenteuerlichen Leben am Ende des 19. Jahrhunderts erzählt Magris in Kreuz des Südens. Von drei Auswanderern, die sich jeweils in eine weltabgewandte Region dieser Erde wagen – nach Patagonien, ans „Ende der Welt“, fremd, unwirtlich, menschenfeindlich. Zwei Männer und eine Frau wollen das Andere erleben, es kennenlernen, entfernen sich weitestmöglich aus dem eigenen Kulturkreis: Janez Benigar, aus Slowenien stammender Ethnologe, Orélie-Antoine Tounens, Anwalt aus der französischen Stadt Périgueux und Schwester Angela Vallese aus dem Piemont. Was wollten diese Menschen? Benigar hatte die Vision einer Welt, in der es einen würdigen und brüderlichen Platz für alle gibt. Für ihn zählte „nicht in erster Linie das Individuum, sondern das Werk, das, was der Mensch konkret geschaffen und als Vermächtnis hinterlassen hat.“ (S. 69) Tounens wurde über seiner ähnlich gearteten Weltanschauung verrückt, ließ sich zum König von Araukanien und Patagonien ausrufen und kämpfte einen aussichtslosen Freiheitskampf für ein Volk, das sich in Jahrhunderte währenden Auflehnungskämpfen gegen die spanischen Eroberer längst aufgerieben hatte. Schwester Angela war sanft und zugleich wagemutig, entschlossen, angetrieben nicht – nur – von curiositas. „Bei ihr ging es immer um studiositas, das von Liebe erfüllte Wissen. (S. 126) Sie verteidigte die Würde der Menschen, war selbst in ihrem Tun die geglückte Verbindung von Stolz und Respekt. Drei höchst bemerkenswerte Schicksale versammelt Magris in diesem erstaunlichen, kleinen Buch über Heimat und die Fremde, über die Poesie, die Kultur, die Freiheit und den Tod. [Susanne Bader]

In diesem 2006 zum ersten Mal erschienenen, jetzt erneut aufgelegten, schmalen Band erinnert sich die 1935 in einem Städtchen im Harz geborene, wunderbare Sarah Kirsch an ihre Kindheit. Ihre Gedanken kreisen um die Einschulung, 1941, als der Krieg bereits zwei Jahre wütete, aber noch weit weg schien, bis hin zum Bauarbeiteraufstand in der DDR 1953. Mit hellwachen Sinnen bewegt sich das Mädchen Sarah in einer abwechselnd idyllisch, immer wieder auch bedrohlich erscheinenden Welt. Lange nicht mehr habe ich mich beim Lesen so gut wiedergefunden in meiner eigenen Kindheit, eine Generation später. Die hin und wieder liebenswert altmodisch wirkende Sprache tut das ihrige, um sich selbst in frühere Zeiten des eigenen Lebens zurückzuversetzen. Dennoch ist dieses kleine Buch erfreulich nüchtern und klar in den Schilderungen der sehr unterschiedlichen Eindrücke und Einschätzungen, seien sie politisch, gesellschaftlich, menschlich. Sarah Kirsch beschönigt nicht, glättet nicht, sondern schildert prägnant den Übergang aus einer Zeit, die von einem vernichtenden Krieg geprägt war in eine sozialistische Gesellschaft. Diese hatte sich zwar längst noch nicht gefestigt, war aber in ihren unangenehmen, beängstigenden Ausprägungen bereits deutlich zu spüren. Sarah Kirsch hatte es immer weniger mit dem Vaterland als mit der Muttersprache. Ein Glücksfall für die Literatur. Ein Geschenk für die Leser*innen. [SB]

Steidl Verlag, 18 Euro

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