Langsames Erwachen
von Susanne Bader und Björn Siller
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung zum Wetzstein,
An manch frühen, klaren Morgen höre ich schon hin und wieder die Vögel zwitschern, mitten in der Altstadt. Ihr Gesang schwebt über den Dächern wie ein leichter Nebel, der einer Landschaft – hier besteht sie aus alten Häuserfassaden und Dächern – zusätzliche Schönheit verleihen kann. Dann wieder folgen kalte, nasse Tage und morgendliche Stille, Regen. Schnee. Die Dächer leuchten weiß. Ein kalter Wind fegt durch die Straßen. Abende mit Büchern, Musik, mit Essen und Wein mildern das hartnäckige Grau der ersten beiden Monate des Jahres.
Die Buchhandlung zum Wetzstein lädt ein:
Mittwoch, 8. Februar 2023 um 19.00 Uhr stellt Rainer Marten sein neuestes Buch Das Glück, Mensch zu sein vor.
Der Philosoph liest Passagen daraus und ordnet diese im gemeinsamen Gespräch mit seinem langjährigen Lektor Lukas Trabert ein.
Im Anschluss an die Buchvorstellung gibt es die Möglichkeit zum Gedankenaustausch bei Brot und Dörflinger Wein. Wir freuen uns auf Ihren Besuch und bitten um Reservierung. Es sind noch wenige Plätze frei. Der Eintritt beträgt 10 Euro.
Montag, den 13. Februar 2023 um 18 Uhr:
Der Wetzsteinbrief im Gespräch
Wir präsentieren in der Buchhandlung die Bücher des Februar-Wetzsteinbriefes und erzählen, warum wir diese ausgewählt haben und Ihnen empfehlen. Über Ihr Interesse und Ihre Teilnahme freuen wir uns. Bitte melden Sie sich an. Eintritt frei.
Mittwoch, den 22. Februar 2023, 19 Uhr: Schussfahrt in die Katastrophe
Vor 90 Jahren kam Hitler an die Macht. In nur 30 Tagen zerstörte er die erste deutsche Demokratie und das unnachahmliche Kulturleben der Weimarer Republik. Die Veranstaltung in der Buchhandlung zum Wetzstein bietet einen Rückblick auf die wichtigsten Stationen dieser kurzen, aber umso steileren Schussfahrt in die Katastrophe. Uwe Wittstock erzählt von ihr aus der Perspektive der deutschen Literatur. Mit Hauptdarstellern wie Joseph Roth, Else Lasker-Schüler, Egon Erwin Kisch, Klaus, Erika, Heinrich und Thomas Mann. Auch die Geschehnisse vom 22. Februar 1933 werden genau 90 Jahre später, am Abend im Wetzstein eine Rolle spielen: Heinrich Mann flieht nach Frankreich, Erika und Klaus Mann feiern eine Party, Harry Graf Kessler muss einsehen, dass es nur noch darauf ankommt, die nächsten Wochen zu überleben, und Hermann Göring befördert 40.000 SA- und SS-Männer zu bewaffneten Hilfspolizisten.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch und bitten um rechtzeitige Reservierung.
Der Eintritt beträgt 10,00 €.
Stellenangebote der Buchhandlung zum Wetzstein:
Ab sofort bieten wir eine ganze oder zwei halbe Stellen in unserer Buchhandlung. Der Arbeitsplatz ist schön, die Mitarbeiter:innen sind freundlich und kompetent. Voraussetzung für Ihre Bewerbung sind gute Kenntnisse im Buchhandel, sorgfältiges Arbeiten und Leidenschaft für diesen schönen Beruf.
Geänderte Öffnungszeiten:
Ab Montag, den 6. Februar 2023, müssen wir leider wegen Personalmangels unsere Öffnungszeiten ändern.
Die Buchhandlung ist dann bis auf Weiteres geöffnet von
Mittwoch bis Samstag von 10 bis 18 Uhr.
Wir bitten Sie um wohlwollendes Verständnis und hoffen auf schnelle Verstärkung unseres Teams und Rückkehr zu unseren bisherigen Öffnungszeiten.
Doch jetzt zu unseren Buchempfehlungen:
Lauren Groff: Matrix (Bestellen)
Claassen Verlag, 24 Euro
Ein 17jähriges Mädchen, gezeugt in einer Vergewaltigung, groß und eckig gewachsen – das sind keine guten Attribute für eine Frau im Mittelalter, selbst wenn sie von königlichem Geblüt ist. Als die Königin sie zur Priorin eines Klosters macht, scheint zunächst ihr Leben zu zerbrechen. Statt jedoch zu resignieren, ergreift Marie in der klösterliche Welt die ihr angebotene Chance, ihr Leben und das der ihr anvertrauten Gemeinschaft zu prägen und zu gestalten.
Matrix ist ein Historienroman, der unter anderem das Leben und die Legenden um Marie de France aufgreift. Der Roman bleibt aber nicht den Legenden verhaftet, sondern schafft es mit seiner Sprache, uns die teils schmutzige, stinkende, morbide Welt des Mittelalters erleben zu lassen. Er zeigt, dass die Historie uns immer auch erzählt, wie das Heute entstanden ist. Ein Buch, das nicht nur Lesegenuss bietet, sondern auch eine wichtige Stimme im Konzert heutiger Debatten ist.
Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke (Bestellen)
Guggolz Verlag, 22 Euro
„Eine Stadt, die es nicht mehr gibt“, das ist der Ort, an dem das siebenjährige Mädchen Leena ihre Welt entdeckt. Eine Welt voller Tristesse und grauer Schatten. Eine Welt, die Leena selbst gestaltet, indem sie zwischen Himmel und Erde – auf der Himmelsbrücke – wandelt. Bei einem ihrer Spaziergänge landet sie in einer katholischen Kirche und wird eingefangen von der brausenden Orgelmusik von Bach. Die Musik wird ihr Leben, das bisher von Trauer geprägt war, verwandeln. Sie wird mehr denn je Leena helfen, über sich hinaus zu träumen, sich hinaus zu dichten, in dem sie neue Wörter erfindet, um die Welt neu zu schaffen.
Das Mädchen auf der Himmelsbrücke ist der erste Roman Eeva-Liisa Manners. 1951 in Finnland erschienen, dauerte es 71 Jahre – viel zu lange –, bis dieses Buch ins Deutsche übersetzt wurde. Das Nachwort von Antje Rávik Strubel rundet das wunderbare kleine Werk ab und setzt einen würdigen Schlusspunkt.
Ein jüdischer Garten (Bestellen)
angelegt von Itmar Gov, Hila Peleg und Eran Schaerf Hanser Verlag, 28 Euro
Der leuchtend grüne Einband und der ebenso grüne Buchschnitt dieses Werkes sind ein farbenfroher Hingucker zwischen all den Büchern, die auf meinem Schreibtisch darauf warten, gelesen zu werden. Und was für ein wunderbares Buch öffnet mir hier das Tor zu einer ganz besonderen Welt! Hervorgegangen aus einem Projekt des Hauses der Kulturen der Welt blättere ich, geführt von einem Alphabet aus Pflanzenbezeichnungen, durch die Seiten, beginnend bei der Akazie und endend bei der Zypresse. Einen jüdischen Garten im eigentlichen Sinne als bestimmbare Einrichtung hat es nie gegeben. Aber die Literatur, die in diesem Buch versammelt ist, geschrieben unter vielen anderen in arabischer, deutscher, englischer, französischer, hebräischer, jiddischer, polnischer, spanischer Sprache, geschrieben von jüdischen und auch nichtjüdischen Schriftsteller:innen, diese Literatur schafft einen blühenden, duftenden Raum, in dem wir wandeln, schwelgen und uns verlieren können.
Jean Malaquais: Planet ohne Visum (Bestellen)
Edition Nautilus, 32 Euro
Der Autor wurde 1908 als Wladimir Malacki in eine jüdische Familie in Warschau geboren, lebte in Frankreich, geriet im Zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft. Über Marseille gelang ihm die Flucht in die USA. Er starb 1998 in Genf. So kurz und prosaisch lässt sich sein Leben hier zusammenfassen. Sein Roman Planet ohne Visum hingegen ist üppig, reich, überaus beeindruckend. Die Sprache genau, elegant, treffend in der Schilderung der Charaktere. Marseille 1942. Die Stadt quillt über von Verzweifelten, von Verrätern, Spionen, Denunzianten, Mitläufern, Aktivisten in der Résistance. Keiner kann dem anderen trauen. Alle hoffen: auf die Ausreise, das große Geld, das große Glück, einen irgendwie gesicherten Platz in einer Gesellschaft, die kaum noch Moral und Mitgefühl kennt. Die meisten sind sich selbst die Nächsten, kämpfen ums Überleben. Malaquais ist dabei ein glänzender Beobachter aller menschlichen Stärken und Schwächen, verknüpft und verwebt gekonnt die einzelnen Schicksale. Dieser Roman ist ein Meisterwerk.
1913-1923-1933-1943 – Jahre der Entscheidungen:
Florian Illies: 1913 (Bestellen)
Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer Verlag, 25 Euro
2012 schon ist dieses Buch, das wir in diesen Wetzsteinbrief als Ausgangspunkt für literarische Auseinandersetzungen mit den 3-er Jahren aufnehmen, erschienen. Illies bildet darin kurzweilig und informativ politische und ganz besonders kulturelle Ereignisse des Jahres 1913 ab, eines Jahres, das als letztes Friedensjahr in Erinnerung bleiben wird – aber auch viele andere Facetten hat. Am Horizont zeichnete sich bereits die kommende blutgetränkte Zeit ab.
Volker Ullrich: Deutschland 1923 (Bestellen)
Das Jahr am Abgrund. C. H. Beck Verlag, 28 Euro
Packend wie ein Krimi, so liest sich das Sachbuch von Volker Ullrich. Er schreibt über das extreme Jahr 1923 nicht chronologisch, sondern unter thematischen Aspekten: Besetzung des Ruhrgebietes, Inflation, Politik und Diplomatie, Putschversuche und Intrigen. 1923 ist laut Ullrich ein annus horribilis der deutschen Geschichte, aber auch ein Schlüsseljahr der Demokratie. Denn gerade jenes Jahr zeigte die Wehrfähigkeit der jungen Republik: standhafte Akteure kämpften für sie aus Pragmatismus und Überzeugung. Deutschland 1923 ist Geschichtsbuch, gesättigt mit Fakten, und beste, unterhaltsame Lektüre zugleich. Höchst lesenswert.
Uwe Wittstock: Februar 33 (Bestellen)
Der Winter der Literatur. C. H. Beck, 24 Euro
Das Beeindruckende an diesem 2021 erschienenen Buch ist, wie sorgfältig recherchiert und großartig erzählt uns Uwe Wittstock die rasend schnelle Fahrt in den Untergang vor Augen führt. Gebannt liest man und kann es kaum glauben, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit eine kulturelle Welt vernichtet und eine mörderische Diktatur aufgebaut wird. Wittstock schreibt: „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“
Wir freuen uns sehr auf den Abend des 22. Februar im Wetzstein mit Herrn Wittstock, dem bekannten Literaturkritiker und Buchautor (siehe unser Veranstaltungshinweis zu Beginn dieses Briefes).
Oliver Hilmes: Schattenzeit. (Bestellen)
Deutschland 1943: Alltag und Abgründe. Siedler Verlag, 24 Euro
Ebenfalls als ein bedeutendes Wendejahr beschreibt Oliver Hilmes das Jahr 1943. Während Tausende von Soldaten im Kessel von Stalingrad für die wahnwitzigen Ideen eines Diktators kämpften, brüllte in Berlin Göbbels den „Totalen Krieg“ in die Mikrofone des Sportpalastes. 1943 kämpfte auch der Pianist Karlrobert Kreiten um sein Leben und wird verlieren. Wegen einer unbedachten Bemerkung wird er am Galgen enden. 1943 muss Hans Rosenthal sich in einem Schrebergarten verstecken und konnte so das Terrorregime überleben. 1943 ist das Jahr, das Margot Friedländer prägte. Heute lebt sie als eine der letzten Zeitzeuginnen im hohen Alter von 101 Jahren in Berlin. 1943 schreibt Victor Klemperer seine Notizen nieder; 1947 wird das daraus entstandene Buch LTI erstmals veröffentlicht werden. Er deckt darin die wahre Sprache der Nazis auf. Hilmes zeichnet in seinem eindrücklichen Buch mit all den kleinen und großen Ereignissen und Schicksalen eine dramatische Welt der Zerstörung, der Vernichtung und des Untergangs.
Unsere Taschenbuch-Empfehlung im Monat Februar:
Jessica Mitford: Hunnen und Rebellen. (Bestellen)
Meine Familie und das 20. Jahrhundert. Berenberg Verlag, 20 Euro
Von nun an empfehlen wir in jedem Wetzsteinbrief zum Abschluss ein Taschenbuch. Hier die Neuausgabe einer schon im Jahr 2013 in deutscher Sprache erschienenen Familienbiografie von Jessica Mitford.
Sechs Töchter gab es in der Familie Mitford. Deborah und Pamela waren konventionell und eher unauffällig, Unity und Diana glühende Verehrerinnen von Hitler, Nancy war Romanautorin und Dauergeliebte, und Jessica, die Autorin des Buches, eine „Linke“ und Kämpferin auf Seiten der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg.
Diese Lebensgeschichten, gekonnt gewürzt mit britischem Humor, münden in ein wunderbares Buch, das in keinem Bücherregal und auf keiner Leseliste fehlen sollte. Viel Vergnügen!
Noch ist das Jahr jung, aber unschuldig ist es nicht, denn wir Menschen sind es nicht. Der Krieg in der Ukraine dauert weiter an; bald wird er sich jähren. Die Klimakatastrophe ist längst nicht aufgehalten, eben weil wir die Augen immer wieder von dem abwenden, was wir selbst angerichtet haben. Wirtschaftliche Unsicherheiten werden uns das Jahr über erhalten bleiben, gesellschaftliche Verwerfungen sich hoffentlich nicht verstärken. Wir wären jedoch keine fühlenden Wesen, wenn wir nicht dennoch hofften, Pläne schmiedeten, uns freuten. Und darauf vertrauten, dass auch in diesem Jahr es wieder Frühling werden wird.