Der Wetzsteinbrief kommt, wenn der Frühling uns denn schon weiter hinhält, dieses Mal in Teilen italienisch daher, huldigt literarisch also dem Land, in dem die Zitronen blühen. Beginnen wir mit den kleinen gourmandisen aus dem Mandelbaum Verlag und der Zitrone.

Bruno Ciccaglione: Zitrone

kleine gourmandisen Nr. 22. Mandelbaum Verlag, 14 Euro

Im Wetzstein führen wir seit vielen Jahren die Reihe kleine gourmandisen dieses bemerkenswerten Verlags in Wien und Berlin (1996 gegründet) und haben alle lieferbaren Bände vorrätig. Immer auf 60 Seiten erfahren wir darin die Geschichte der jeweiligen Früchte und werden verführt mit wunderbar einfachen Rezepten, die uns köstliche Gerichte bescheren. Bitte fragen Sie uns nach den hübschen und lehrreichen Bändchen und sehen sich im Netz die Verlagsgeschichte und das Programm an. Es lohnt sich sehr.

Hier sei der Ratschlag der Tante des Autors Ciccaglione erwähnt: „Die Schale der Zitronen mit dem Nagel leicht ankratzen und riechen.“ Auf diese Weise könne man Kopfschmerzen den Garaus machen. Bei den Rezepten lassen einem zum Beispiel das Zitronenrisotto, die Saiblingsfilets mit Zitrone und Un gelato al limon schon beim Lesen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Am Abend gibt es bei mir das erwähnte Fischgericht. Es schmeckt einfach herrlich.

Eugen Ruge: Pompeji

Roman. dtv, 25 Euro

Auf einem Fresko eines Hauses in Pompeji (im Jahr 79 untergegangen) sind gelbe Zitrusfrüchte zu sehen, schreibt Ciccaglione, s.o. Wahrscheinlich handelte es sich um Zedratzitronen, denn die uns bekannte Zitrone ist höchstwahrscheinlich eine Kreuzung der Zedratzitrone mit der Bitterorange und kam erst viel später, um das Jahr 700, über Ostasien in den Mittelmeerraum.

Eugen Ruge schreibt in seinem soeben erschienenen Buch über den Untergang der Stadt Pompeji. Dieser wurde schon vielfach in zahllosen Büchern und Filmen erzählt. Wir alle kennen den Ausgang der Geschichte. Und doch gelingt es Ruge, uns in seinem Roman immer wieder zu überraschen. Der fiktive, namenlose Erzähler, ein gelungener Kunstgriff Ruges, beginnt im Jahr 62 mit dem großen Erdbeben und endet mit der Katastrophe im Jahr 79, als die Stadt unter Vulkanasche und Steinen begraben wird – alles niedergeschrieben auf 18 Schriftrollen, in einer Amphore versteckt. In seiner Vorrede rät er: „Vergiss, lieber Leser, alles, was du jemals über Pompeji gehört hast. … Glaube nicht den Dichtern, nicht den Historikern, nicht den Mächtigen und nicht den Machtlosen. … Glaube nicht denen, die vorgeblich von nichts gewusst haben, und glaube erst recht nicht denen, die sagen, sie hätten es schon immer gewusst. Vergiss und lies.“

Kraftvoll, klug, unterhaltsam, gleichzeitig voller Humor, häufig an der Grenze zur Satire, mischt Ruge geschickt historische Fakten und Personen mit trefflich gezeichneten, erfundenen Charakteren und Ereignissen. Es ist ein wahres Vergnügen, dem Protagonisten, einem mittelmäßigen Aufsteiger und Opportunisten namens Jowna, bei all seinen Auf und Abs zu folgen. Es ist schönste Unterhaltung und so wunderbar gegenwärtig, von all den Intrigen in einer dekadenten Gesellschaft, von den politischen Ränken, von ausgeprägten Eitelkeiten, von zügelloser Geschäftemacherei zu lesen. Ein großartig geschilderter Tanz auf dem Vulkan. Unbedingt lesenswert!

Raoul Schrott: Inventur des Sommers

Über das Abwesende. Hanser Verlag, 25 Euro

Raoul Schrott reflektiert das Abwesende in seinem neuen Gedichtband als eine Frage menschlicher Beschränkung. In seiner Einleitung zum Buch schreibt er: „An allem Absenten bleibt, wiewohl ungreifbar, Wirkliches haften: so, als wirke es noch ein wenig aus dem Verborgenen, Verschwundenen weiter. Denn um als abwesend zu gelten, muss jemand zuvor anwesend und damit real gewesen – und zudem nicht vergessen, sondern in Erinnerung geblieben sein. … Das ist der Aspekt des Abwesenden, der mich anzieht: seine wie auch immer illusionäre, rudimentäre Anwesenheit.“ Der nachdenklichen, klugen, immer wieder seine Überlegungen nochmals überdenkenden Einleitung lässt Schrott auf 170 Seiten eindrückliche Gedichte folgen, eingeteilt u.a. in die Abschnitte Vom Fortgehen und Zurückkommen, Totenreden, Inventur des Sommers, Über das Anwesende, Nachtflüge, Inventar der Zwischenräume. Verfasst wurden die Gedichte an den unterschiedlichsten Orten, zuhause und unterwegs. Ein ruhiges, mitunter melancholisches Leseerlebnis, am besten in kleinen Folgen zu genießen, zum Ausklang des Tages oder am Morgen, oder dann, wenn man sich eine Auszeit von dem nimmt, mit dem man beschäftigt ist.

Zurück nach Italien!

Luciano Valabrega: Puntarelle & Pomodori

Die römisch-jüdische Küche meiner Familie. Wagenbach Verlag, 22 Euro

Hier schreibt ein leidenschaftlicher Autor und Koch gegen das Vergessen an: dasjenige der Familiengeschichten und das der besonderen Rezepte der mehr als tausendjährigen jüdischen Tradition als einem wichtigen Bestandteil in der römischen Küche. Der Band aus der hübschen Salto-Reihe ist eine geglückte Mischung von Rezepten und Erinnerungen, garniert mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Familienalbum. Die Rezepte sind einfach, die Gerichte äußerst schmackhaft, die Erinnerungen liebevoll und liebenswert. „Also habe ich unbekümmert weitergeschrieben, vielleicht, um mir zu sagen, dass man möglicherweise ein bisschen besser lebt, wenn man nicht nur das Gedächtnis der guten Rezepte von damals bewahrt, sondern auch versucht, wieder Zeit in der Küche zu verbringen, einzukaufen, den Tisch zu decken und die Gäste mit Freude, aber vor allem der erregenden Gewissheit zu empfangen, dass der langsame, ruhige Einsatz, den diese Tätigkeiten verlangen, am Ende mit viel Beifall belohnt wird.“

In unserer lauten, schnellen Zeit mit Hochglanz- und hoch technisierten Küchen und dennoch immer mehr Fertiggerichten (wie verträgt sich das?) ist dieses Buch eine Oase der Bedächtigkeit und Muße. Und regt all unsere Sinne auf das Schönste an.

Lucia Zamolo: Jeden Tag Spaghetti

Wie es sich anfühlt, von hier zu sein, aber irgendwie auch nicht. Ab 9 Jahren. Bohem Press Verlag, 16 Euro

Das ist ganz bestimmt kein Kochbuch, sondern eine persönliche und höchst intelligente Zusammenstellung von Texten zu Vorurteilen, Vorverurteilungen, Identität. Die Illustratorin und Autorin Lucia Zamolo erläutert in Wort und ausdrucksstarkem Bild unser häufiges Denken in Schubladen, schreibt in witzigen, klugen Dialogen über Begriffe wie Heimat, Anders sein und die immer wieder gestellten Fragen nach ihrer Herkunft (wegen des italienischen Familiennamens!). Und natürlich spielen auch Spaghetti darin ihren Part. Eine vergnügliche und doch ernsthafte Auseinandersetzung damit, warum wir alle das uns weniger Vertraute zu häufig als fremd und bedrohlich wahrnehmen.

Andrea Giovene: Romanserie Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero

Als dieses Werk in den 1960er Jahren zum ersten Mal erschien, wurde es schnell mit den Werken Prousts, Becketts oder Stendhals und ganz besonders mit dem Roman von Tomasi von Lampedusa Der Leopard / Il Gattopardo verglichen. Ob dies stimmt, können nun auch wir in Deutschland entscheiden, denn der Verlag Galiani bringt aktuell nach und nach die insgesamt fünf Romane Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero heraus. Nutzen Sie die Möglichkeit, dieses herrlich gemalte Fresco des 20. Jahrhunderts zu entdecken. Sie werden belohnt, mit jedem Satz, mit jedem Band.

Die fünf Bücher spielen zwischen den beiden Weltkriegen, bis in das Jahr 1957 hinein, und behandeln die Lebensgeschichte von Giuliano di Sansevero. Er, adeliger Neapolitaner, macht sich auf die Suche nach einem neuen Leben, mitten im Geschehen der großen Ereignisse seiner Zeit. Giuliano verzichtet auf die Privilegien seines Standes, verlässt immer wieder die vorgegebenen Pfade und stellt sich den damit verbundenen großen Herausforderungen.

Andrea Giovene: Ein junger Herr aus Neapel

Verlag Galiani, 26 Euro

Im ersten Band entfaltet der Autor ein buntes Spektrum einer untergegangenen Welt. Eine Familie, verarmter Adel und gefangen in überkommenen Traditionen, verliert den Halt in einer ihr fremd gewordenen Zeit. Zwar ist der Protagonist noch Teil dieser alten Welt, aber er erkennt schon die Risse, die ersten Aufbrüche, die ihn aus den längst überdauerten Familien- und Gesellschaftsstrukturen herauskatapultieren werden. Giovene glänzt schon hier mit einer Erzählkunst, die zeigt, dass dieser Text Weltliteratur ist, aber wie jede gute Literatur erobert werden will.

Andrea Giovene: Die Jahre zwischen Gut und Böse

Verlag Galiani, 26 Euro

Im zweiten Band wandelt sich die Erzählung von Guilianos Leben. Er bricht aus der Passivität der bourbonischen Schattenwelt aus, nimmt sein Leben in die Hand, lebt in den quirligen Metropolen der Zwischenkriegszeit. Auch hier ist es ein Leben in Dekadenz, das sich jedoch von jenem des Adels unterscheidet. Nicht Schein und Etikette, sondern die Janusköpfigkeit des Daseins zwingt ihn zu immer neuen Lebensentscheidungen. Er bricht mit seiner Welt und zu neuen Ufern auf.

Andrea Giovene: Das Haus der Häuser

Verlag Galiani, 26 Euro

Guiliano zieht sich aus dem mondänen Leben zurück, aufs Land, auf ein ererbtes Grundstück in Kalabrien. Beeindruckt von der Einfachheit und Genügsamkeit der Bewohner und der Region will er nun ein Leben wie sie führen und baut sich ein Haus. Doch die Welt „draussen“ lässt sich nicht ignorieren und drängt in diese vermeintliche Idylle. Dieser dritte Band des Romanzyklus gemahnt an die gewaltigen Erzählungen der griechischen Mythologie. Der Zorn der Götter bricht in Giulianos Arkadien ein.

Die beiden noch fehlenden Bände erscheinen im Laufe des Jahres 2023.

Vincenzo Latronico: Die Perfektionen

Claassen Verlag, 22 Euro

Anna und Tom zog es aus ihrer Heimat, der italienischen Provinz, nach Berlin, zu einem Leben, digital und kreativ, nomadisch, auch trotz der großen Altbauwohnung. Alles ist bunt und gestylt. Sie haben es geschafft: mit der Wohnung, den üppig grünen Zimmerpflanzen, gemütlichen Ecken und perfekt platzierten Designobjekten, mit wechselnden Freundesgruppen und spontanen Begegnungen. Die Tage durchleben, zwischen Arbeit und dauerhafter digitaler Präsenz. Ihr perfektes Leben ist vergleichbar, nahezu identisch mit den Leben anderer junger Paare um die Dreißig.

Die Perfektionen ist ein Berlinroman, der nicht (nur) in Berlin spielt. Ein Roman der heutigen „Gastarbeiter“, der digital Natives, in dem Menschen, Länder und Arbeitsorte austauschbar sind. Und damit ist Die Perfektionen ein Roman, der Illusion und Enttäuschung gleichermaßen zeigt, in einem digitalen Fotoalbum, alle Fotos perfekt bearbeitet, dahinter aber schon sichtbar eine zunehmende Zerbrechlichkeit der vermeintlichen Realität.

Ein Buch über bearbeitete, falsche Bilder und Wahrnehmungen, über gebastelte Wirklichkeiten, in denen das Italienische nicht abgeschüttelt, die neue Heimat aber auch nicht entdeckt wird. Ein Buch, das von Sehnsucht erzählt und deren Erfüllung offen lässt.

Johann Wolfgang von Goethe, Helmut Schlaiß: Italienische Reise

Ein fotografisches Abenteuer von Helmut Schlaiß mit einem Nachwort von Denis Scheck. Manesse Verlag, 49,80 Euro

Ein prächtiger, wunderschön gestalteter Band, den es immer wieder zur Hand zu nehmen lohnt. Das Nachwort von Denis Scheck mag zwar verkaufsfördernd sein, wäre aber nicht nötig gewesen. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Fotokünstlers Schlaiß sprechen ausreichend für sich. Fasziniert folgen wir Goethes Spuren, seinen Wegen, machen mit den Augen Station in Vicenza, Venedig, Florenz, Rom und Neapel und verlieren uns in traumhaft schönen Landschaftsbildern. Ein neben aller großen künstlerischen Qualität ausgesprochen stilvoller Band.

Zum Schluss dieses Mal kein Taschenbuch, sondern ein kleines Büchlein aus dem Rowohlt Verlag:

Fran Lebowitz: Mr. Chas und Lisa Sue treffen die Pandas

Übersetzt von Willi Winkler. Illustriert von Ralf König. Rowohlt Berlin Verlag, 20 Euro

Dies ist eines der liebenswürdigsten und komischsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Dazu konnte ich, wie eingangs erwähnt, bei Sonnenschein auf dem winzigen Terrassen-Platz über meiner Wohnung zwischen den Dächern der Altstadt sitzen und die kurzzeitige Wärme, das Vogelgezwitscher und den blauen Himmel über mir genießen. Es war Sonntag und die Glocken des Münsters machten im Hintergrund mit ihrem vollen Klang die allerschönste Musik.

Wir sind in einem großen Haus in New York, weit weg von Italien. In diesem Haus leben bei ihren Familien die beiden sehr eigenwilligen Kinder Charles und Lisa, genannt Mr. Chas und Lisa Sue. Mr. Chas erzählt uns die hinreißende Geschichte von einem hinter der Tür verborgenen, geheimnisvollen langen Flur, der wohl im Kreis führt, zwei dort lebenden Pandas, einem Wettrennen und der ganz großen Sehnsucht, nach Paris zu fahren. Fran Lebowitz, die eigenwillige und bemerkenswerte Dame und Autorin, hat dieses wunderbare Kinderbuch verfasst, der Journalist und Autor Willi Winkler (Herbstlicht, eine höchst lesenswerte Wanderung nach Italien, und Das braune Netz) hat trefflich übersetzt und Ralf König (Abba hallo!) umwerfend illustriert.

Dieses Buch hilft: gegen Kopfschmerzen wie die Zitronen, gegen ein nasses und kaltes Frühjahr, gegen trübe Stimmung, und das besser als alle Vitamin D-Tabletten dieser Welt. Es wärmt das Herz.

Viel Freude mit unseren Buchempfehlungen, Sonne, einem hoffentlich blauen Himmel, mit Wärme und der Fähigkeit, unsere Sehnsüchte zum angenehmen Stimulans zu formen – das alles wünschen wir Ihnen.

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